Reden

Hier finden Sie den Bericht und Fotos von der Veranstaltung:

Rede von Kerstin Tack

Veranstaltung „Ausbildung im Umbruch - Zwischen Ausbildungsplatzkrise und Fachkräftemangel“

am 27. August 2009 in der Üstra-Remise, Hannover


Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter!

Ich freue mich sehr, Sie auf unserer Veranstaltung „Ausbildung im Umbruch – Zwischen Ausbildungsplatzkrise und Fachkräftemangel“ begrüßen zu dürfen. Einen besonderen Dank für ihr Kommen richte ich an die Personen, die wesentlichen Anteil am Gelingen haben dürften:

- Bärbel Bruns, Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats der Continental AG
Bärbel Bruns hat bereits die Begrüßung übernommen. In der Podiumsdiskussion wird sie später die betriebliche Sicht auf das Thema beisteuern.

- Katy Hübner, Bundesjugendsekretärin der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie
Katy Hübner wird direkt nach mir sprechen und in die europäische Dimension der Ausbildungspolitik einführen und die daraus für Deutschland entstehenden Aufgaben beschreiben.

- Bernd Henkel, Leiter der Berufsbildenden Schule für Büro- und Freizeitberufe in Hannover
Bernd Henkel steuert zu unserer Veranstaltung die berufsschulische Sicht bei. Oftmals wird bei Reformen die Umsetzungsebene vergessen. Deshalb bin ich besonders gespannt, was er und zum Projekt Regionale Kompetenzzentren und zur Verordnung über berufsbildende Schulen erzählen kann.

- Martin Hanske, wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD im Stadtrat der Landeshauptstadt Hannover
Martin Hanske moderiert die Podiumsdiskussion, an der Sie sich als Gäste gerne mit Fragen und kurzen Statements beteiligen können.

Lassen Sie mich vorab eine Bemerkung zu dieser Veranstaltung machen. Diese Themenveranstaltung ist Teil meiner „Ausbildungswoche“. In dieser Woche besuche ich Ausbildungsbetriebe und -einrichtungen, um mehr über die Probleme und die Perspektiven unseres Ausbildungssystems zu erfahren.

Eröffnet habe ich die „Ausbildungswoche“ am Dienstag mit einem gemeinsamen Besuch von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries bei der GISMA. Weiter ging es zu einem Malerbetrieb, zu VW, zu Conti, zu aha, zu einer Autowerkstatt, einer Bäckerei, einem Buchhandel, Pro Beruf und am Freitag werde ich das Diakonie-Kolleg Hannover besuchen. Mit dieser Themenveranstaltung heute erreichen wir den inhaltlichen Schwerpunkt dieser Woche. Morgen folgt ein „Ausbildungskonzert“, ein Open-Air für junge Menschen in Schule, Hochschule und Ausbildung.

Die Gründe für diese „Ausbildungswoche“ liegen auf der Hand. Sie alle hier im Publikum wissen es durch Ihre tagtäglichen Berufserfahrungen besser als ich.

Als im vergangenen Jahr die Finanzkrise begann, war klar: Dies hat in diesem Jahr hohe Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Und der Ausbildungsmarkt ist einer der sensibelsten Teile des Arbeitsmarktes. Zumal der Ausbildungsmarkt bereits in den vergangenen Jahren alles andere als intakt war.

Die Gewerkschaften haben stets betont, dass wir in Deutschland ein Angebot von 110% an Ausbildungsplätzen benötigen, um Jugendlichen ein auswahlfähiges Angebot an Ausbildungsplätzen zu bieten. D.h., jeder Jugendliche bekommt nicht irgendeinen Platz, sondern halbwegs den Ausbildungsgang, für den sie sich bzw. er sich interessiert. Über die regionale Verteilung von Ausbildungsplätzen ist damit übrigens noch wenig gesagt.

Gerade mit der regionalen Verteilung von Ausbildungsplätzen verbinde ich einen sehr persönlichen Lebensumstand. Nach meinem Realschulabschluss in Wittingen im damaligen Zonenrandgebiet war es mein Herzenswunsch, Erzieherin zu werden. Aber meine Eltern sagten zu mir: „So lange du noch nicht volljährig bist, bleibst du bei uns wohnen. Und deshalb lernst du einen Beruf, den es bei uns gibt.“

Ich wollte Erzieherin werden, aber dazu hätte ich nach Hannover ziehen müssen. Also wurde ich Rechtsanwalts- und Notarsgehilfin, denn das ging auch in Wittingen. Die Lehrzeit verging, ich wurde 18 und zog nach Hannover, um in einer zweiten Ausbildung Erzieherin zu werden.

Zurück zum auswahlfähigen Angebot an Ausbildungsplätzen. Davon waren wir auch in den vergangenen Jahren weit entfernt. Die als „Warteschleifen“ abqualifizierten Plätze im Übergangssystem an den Berufsschulen liefen voller und voller. Vor zwei Jahren hatten wir in Niedersachsen zum ersten Mal die Situation, dass sich mehr Jugendliche aus diesen „Warteschleifen“ heraus um Ausbildungsplätze bewarben als es Bewerberinnen und Bewerber aus dem allgemein bildenden Schulsystem gab. - Also die Zahl der Warteschleifen-Bewerber die Zahl der Neubewerber überstieg.

Für mich war deshalb schnell klar, dass die Ausbildungsplatzkrise sich in diesem Sommer verschärfen wird. Die Finanzkrise hat sich zur Wirtschaftskrise ausgewachsen. Der Arbeitsmarkt konnte durch kluge Entscheidungen wie die der Verlängerung der Kurzarbeit noch stabilisiert werden. - Olaf Scholz sei dank. Aber welches Unternehmen schafft Ausbildungsplätze, wenn die halbe Belegschaft kurzarbeitet? Und welches Unternehmen übernimmt Auszubildende, wenn es gerade dabei ist, sind von der gesamten Randbelegschaft - beispielsweise Leiharbeitern - zu trennen?

Die Zahlen dieses Sommers bestätigten unsere Befürchtungen. Zwar brach der Ausbildungsmarkt in der Region Hannover nicht so stark ein wie erwartet. Aber ein Minus von fast 6% ist schon schlimm genug, zumal sich um diese Plätze wieder Neubewerber und Jugendliche aus den Warteschleifen balgen.

Geradezu explosionsartig stieg die Zahl der Jugendarbeitslosigkeit an. Um mehr als 25% nahm sie von Juni auf Juli in Niedersachsen zu. Dies waren vor allem Jugendliche, die an der „zweiten Schwelle“ scheiterten. Mit der „zweiten Schwelle“ ist die Übernahme nach der Ausbildung gemeint, während die „erste Schwelle“ die Probleme bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz beschreibt.

Die Ausbildungsplatzkrise wäre an sich schon Grund genug für eine Themenveranstaltung. Der Widerspruch dieser Entwicklung besteht aber im parallelen Mangel an Fachkräften, an hochqualifizierten Berufstätigen wie Ingenieuren. Dieses sieht man auch an dem Bemühen der Unternehmen, ihre Kernbelegschaften so lange wie möglich vor der Krise durch Kurzarbeit zu schützen. Sie wissen um den Wert ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wenn die Krise überwunden ist, müssten sie sich sehr um neue Beschäftigte bemühen. Und dieses vor dem Hintergrund, dass die Gesamtzahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland in den nächsten Jahren stark sinken wird.

Deutschland ist ein alterndes Land. Der demografische Wandel führt perspektivisch zu einem Mangel an Arbeitskräften insgesamt. Dies ist eine Herausforderung, aber auch eine große Chance für unsere Gesellschaft.

Ich will Sie nicht mit Zahlen bombardieren. Aber wenn wir über die Zukunft Deutschlands reden, müssen wir einige Fakten im Hinterkopf haben:

- Im Jahre 1970 waren 30% der Bevölkerung unter 20 Jahre alt, 20% waren über 60 und 50% zwischen 20 und 60 Jahre alt, also im besten Erwerbsalter.

- Aus dem Jahre 2005 stammt die letzte Erhebung des Mikrozensuses. Damals waren 20% der Bevölkerung unter 20, 25% über 60 und 55% zwischen 20 und 60 Jahre alt.

- Im Jahre 2050 sollen noch gut 15% der Bevölkerung unter 20 Jahre alt sein, 39% über 60 und rund 46% zwischen 20 und 60 sein.

In den 80 Jahren von 1970 bis 2050 wird also die Zahl der Menschen im Erwerbstätigenalter von 50% auf 46% abnehmen und sich die Zahl der Menschen über 60 von 20% auf 39% fast verdoppeln.

Zugleich sinkt die Gesamteinwohnerzahl Deutschlands. Die Spitze der Einwohnerzahl hatte Deutschland 2003 mit 82,5 Millionen erreicht. 2050 sollen noch rund 74 Millionen Menschen hier leben. Das Durchschnittsalter wird angeblich von 42 auf 50 Jahre steigen.

Dieses hört sich nicht so dramatisch an, wie die manchmal etwas hysterisch geratene Debatte um die „Überalterung“ und „Schrumpfung“ Deutschlands hätte vermuten lassen. Aber es ist Herausforderung für uns alle genug. Und wenn ich „alle“ sage, meine ich alle beteiligten Akteure:

- den Staat, der die Voraussetzungen für lebenslanges Lernen schaffen muss und niemanden zurücklassen darf,

- die Unternehmen, die ausbilden müssen, die ein Studium neben dem Beruf, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie eine Kultur der Weiterbildung etablieren müssen

- den öffentlichen Dienst, der gegenüber den Unternehmen eine Vorbildfunktion hat,

- die Bildungseinrichtungen, die künftig nicht nur jahrgangsübergreifend, sondern sogar generationenübergreifend arbeiten müssen.

Wir werden in wenigen Jahren einen Fachkräftemangel haben, den wir uns bisher schwer ausmalen können. Trotz Wirtschaftskrise sind derzeit 50.000 Ingenieursstellen unbesetzt. In den nächsten 10 Jahren gehen 50% aller Ingenieure in Deutschland in Ruhestand. Bei einer Million Ingenieure sind dies 500.000 Stellen, die neu besetzt werden müssen.

Derzeit verlassen jährlich 43.000 Ingenieure die Hochschulen, 2015 sollen es nur noch 37.000 sein. - Tendenz weiterhin fallend.

Um genügend Ingenieure auszubilden, müssten die Hochschulen ihre Kapazitäten massiv ausbauen. Sie müssen um Jugendliche aus bildungsfernen Bevölkerungsgruppen, um Menschen mit Migrationshintergrund ebenso werben wie um Frauen. - Und die Hochschulen müssen durchlässiger werden.

Die Ingenieure sind nur beispielhaft für viele andere Berufsgruppen genannt. Es betrifft bereits heute die MINT-Fächer, also Mathe, Informatik, Naturwissenschaften und Technik sowie das Lehramt. Viele weitere Fächer werden folgen.

Wir wissen alle selber nur zu gut, dass nicht nur Akademiker fehlen. Beim Krippenausbau tun sich riesige Lücken bei den Erzieherinnen und Erziehern auf. Und in der Pflege fehlen bereits seit vielen Jahren qualifizierte Kräfte.

Trotzdem glaube ich, dass der demografische Wandel große Chancen für Deutschland bietet. Es ist richtig: Wir brauchen neue Antworten bei der Pflege, bei der Rentenversicherung oder bei der Versorgung von Menschen in schwach besiedelten Landesteilen.

Aber die Chancen für unsere Gesellschaft sind ungleich größer: Weniger junge Menschen heißt auch, weniger Kinder und Jugendliche in den Bildungseinrichtungen. Endlich gibt es die Möglichkeit, die Klassen zu verkleinern, allen Schülerinnen und Schülern durch bessere Betreuung einen Schulabschluss zu vermitteln, die Studenten - Professoren - Relation zu verbessern oder ein auswahlfähiges Ausbildungsplatzangebot bereit zu stellen.

Wir werden neue Jobs schaffen in der Gesundheits-, Pflege- und Seniorenwirtschaft. Und es werden Jobs sein, die für alle Menschen ungeachtet ihres Bildungshintergrundes interessant sein werden. Frank-Walter Steinmeier hat dies beeindruckend in seinem Papier „Die Arbeit von morgen“, dem Deutschlandplan, beschrieben.

Auch Olaf Scholz Vorstoß für den Rechtsanspruch auf einen Hauptschulabschluss für alle war hilfreich.

Denn mit den richtigen Antworten auf die Wirtschaftskrise und den demografischen Wandel kommen wir unserem eigentlichen Ziel, der Vollbeschäftigung, näher.

Vor diesem Hintergrund haben wir diese Veranstaltung vorbereitet, denn den Widerspruch zwischen Ausbildungsplatzkrise auf der einen Seite und Fachkräftemangel auf der anderen gilt es aufzulösen. Das ist unsere Chance, und ich will dazu beitragen, sie zu nutzen.

Denn es darf nicht passieren, was mir vor wenigen Wochen ein junger Mann erzählte. Er hatte einen Ausbildungsplatz in Aussicht unter der Voraussetzung, dass er das Abitur bestehe. Als er voller Stolz mit seinem Abi in der Tasche beim Ausbilder vor der Tür stand, wurde er einige Wochen hingehalten, weil man gerade keine Zeit dafür habe. In dieser Zeit liefen die Meldefristen für die Hochschulen ab. Dann teilte ihm das Unternehmen mit, man könne wegen der wirtschaftlichen Lage diesen Sommer keinen Azubi einstellen. Er möge sich doch bitte zum Jahresende wieder melden, dann würde man sehen, ob man zum 1. Februar etwas für ihn tun könne.

Sehr geehrte Damen und Herren,
so darf das nicht funktionieren. Mir ist dieser junge Mann gut bekannt. Ein intelligenter, umsichtiger und sozial hoch engagierter Mann. Und ihm wurden ohne eigene Schuld seine Chancen und seine soziale Sicherheit in einer Gedankenlosigkeit verbaut, die wirklich abschreckend ist.

Jetzt habe ich viel erzählt zur den Fragen von der Ausbildungsplatzkrise, dem Fachkräftemangel und dem demografischen Wandel als Chance. Ich will neben den sehr globalen Anforderungen an Politik, Unternehmen und die Gesellschaft insgesamt noch einige sehr konkrete Forderungen stellen.

Ich bin der Überzeugung, dass wir eine viel stärkere Durchlässigkeit in unserem Bildungswesen brauchen. Nicht nur das allgemeinbildende Schulwesen in sich ist undurchlässig, sondern auch die drei großen Säulen von Schule, Berufsschule und Hochschule sind undurchlässig.

Wir brauchen neue Struktur für das Zusammenspiel der allgemeinbildenden Schule, der „Warteschleifen“ und der Berufsausbildung:

- Wir brauchen keinen Hauptschulabschluss mehr. Die Probleme der Schülerinnen und Schüler ohne Schulabschluss oder mit einem Hauptschulabschluss sind uns hinreichend bekannt. Ein mittlerer Schulabschluss ist das Minimum in einer Wissensgesellschaft.

- Die allgemeinbildende Schule muss stärker berufsorientierend und berufswahlvorbereitend arbeiten.

- Die „Warteschleifen“ müssen stärker als bisher mit der normalen Berufsausbildung verschränkt werden. Dies kann z. B. geschehen durch Leistungsanerkennung und eine Beschränkung der „Warteschleifen“ auf die Berufsvorbereitung.

Auch das Zusammenspiel der allgemeinbildenden Schule mit der Hochschule und der Berufsausbildung ist neu zu regeln:

- Der Hochschulzugang muss einheitlich zwischen den Bundesländern geregelt werden. Ziel ist es, die Hochschulen für Berufstätige zu öffnen durch eine Art Berufsabitur.
- Die Leistungen der Berufsausbildung müssen auch im Hochschulstudium anerkannt werden.


Dieses sind nur einige Punkte. Weitere Anregungen werden wir in den folgenden Beiträgen hören.

Schließen möchte ich meinen Beitrag mit einem Bericht aus meiner eigenen Bildungskarriere. Ich erwähnte schon, nach meiner Ausbildung zur Rechtsanwalts- und Notarsgehilfin folgte die Ausbildung zur Erzieherin am Stephansstift in Hannover. Ich bekam Schüler-BAFöG, sonst hätte ich diese schulische Ausbildung nicht antreten können und schon gar kein Fach-Abitur machen können.

Mein Vater war damals Maurer, meine Mutter Hausfrau und ihre finanziellen Spielräume bei drei Kindern waren sehr begrenzt.
Nach meiner Erzieherinnen-Ausbildung studierte ich Sozialpädagogik an der Evangelischen Fachhochschule Hannover. Das BAFöG ermöglichte mir mein Studium - und dafür bin ich sehr dankbar. - Übrigens zahle ich heute noch mein BAFöG-Darlehen zurück.

Meine Erfahrung steht für viele Menschen, die aus Nicht-Akademiker-Familien kommen. Nur der Staat kann dafür sorgen, dass alle Menschen gleiche Bildungschancen bekommen. Oder er kann es auch verhindern: Indem er Bildung zur Ware macht und dafür kassiert.

Herzlichen Dank.