Rede von Kerstin Tack im Deutschen Bundestag am 8. Mai 2014

Quelle "Deutscher Bundestag"

Das Video zur Rede finden Sie auch auf der entsprechenden Seite des


Kerstin Tack, MdB
Rede im Deutschen Bundestag 8. Mai 2014


Kerstin Tack (SPD):

Herr Präsident! Liebe Verena Bentele! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren!

Auf dem Protesttag am Montag haben wir mit Blick auf die politischen Herausforderungen beim Thema Menschen mit Behinderung festgestellt – ich glaube auch, dass diese gemeinsame Klarstellung wichtig ist –, dass wir uns diesem Anliegen partei- und fraktionsübergreifend gleichermaßen in wertschätzender und sachlicher Weise widmen müssen.

Jetzt erleben wir aber, dass das, was der Community als wertvolle Unterstützung zugesagt wurde, in der
parlamentarischen Debatte zu einer relativ armseligen Veranstaltung verkommt. Denn ohne selbst nur einen
einzigen inhaltlich-fachlichen Vorschlag zu machen, hält man den anderen vor, dass sie nicht schon selbst längst
Vorschläge auf den Tisch gelegt haben. Damit verabschiedet man sich auch noch von dem Grundsatz „Nicht ohne uns über uns“. Die Grünen fordern von uns – auch jetzt wieder –, in vier Wochen eine umfängliche Sozialrechtsreform vorzulegen.

(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:

Das sagt doch keiner, Frau Tack!)

Aber selbstverständlich, Frau Rüffer. Das haben Sie vorhin wieder getan. – Sie ignorieren dabei die Tatsache,
dass Deutschland sich mit der Ratifikation der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet hat, ein Gesetzgebungsverfahren nur unter Beteiligung der Betroffenen durchzuführen. Wer aber gleichzeitig fordert, das
Vorhaben in vier Wochen abzuschließen, der verabschiedet sich von dem Anspruch, genau dieser Verpflichtung
nachzukommen. Ihnen muss klar sein, dass Sie mit diesen von Ihnen immer wieder vorgebrachten Aussagen gegen den Anspruch verstoßen, den Sie außerhalb des Parlaments erheben.

Vizepräsidentin Ulla Schmidt:

Frau Kollegin Tack, darf die Kollegin Rüffer Ihnen eine Zwischenfrage stellen?

Kerstin Tack (SPD):

Ja, darf sie.

Vizepräsidentin Ulla Schmidt:

Sehr schön. – Frau Kollegin Rüffer.

Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Liebe Frau Tack, ich finde es wunderbar, dass Sie so engagiert über dieses Thema diskutieren. Das eint Menschen, die sich mit Behindertenpolitik beschäftigen. Sie haben uns nun unterstellt, dass wir von Ihnen erwarten würden, ohne Beteiligung Behinderter in vier Wochen ein Bundesteilhabegesetz vorzulegen. Dem ist
aber mitnichten so. Wir haben nur gesagt, dass Sie nicht alles in das Bundesteilhabegesetz schieben können. In
unserem Antrag und in den heutigen Reden haben wir viele Punkte, die man außerhalb dieses Gesetzes regeln
muss, aufgezählt. Ich möchte von Ihnen wissen, ob Sie der Meinung sind, dass man all diese Punkte in ein Gesetz schieben muss, oder ob man nicht die vielen Punkte, über die in der Vergangenheit unter Beteiligung Behinderter ausführlich diskutiert worden ist, schon jetzt umsetzen kann.

Kerstin Tack (SPD):

Nein, das kann man nicht. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Wir streben gemeinschaftlich eine Gesamtlösung an, was verbietet, Einzelaspekte herauszupicken. Vier oder fünf Sozialgesetzbücher, die etwas miteinander zu tun haben, sollen angefasst werden. Jetzt beispielsweise § 13 aus dem SGB XII herauszupicken oder einen Teilaspekt aus einem Paragrafen im SGB IX anders zu fassen, bringt uns nicht weiter. Wir müssten es nämlich ansonsten ein zweites Mal anfassen, nämlich dann, wenn wir mit einer großen Reform eine Wirkung auch auf andere Gesetzbücher entfalten wollen. Wir sagen deshalb: Wir wollen kein Klein-Klein, sondern wir wollen eine große Reform, die Regelungen aus verschiedenen Sozialgesetzbüchern in eine neue Dimension überführt. Wenn man eine Gesamtlösung anstrebt, verbietet es sich, vorher einzelne Rosinen herauspicken. Wenn wir das tun würden, würden wir die Verwirklichung der angestrebten großen Reform gefährden. Das möchten wir ausdrücklich nicht.

Im Gegensatz zu Ihrer Fraktion haben wir hier übrigens mehrfach gesagt, welche Erwartungshaltung wir politisch bezüglich eines Bundesteilhabegesetzes haben. Ich kann es gerne wiederholen: Uns geht es natürlich um ein Wunsch- und Wahlrecht, um Personenzentriertheit, um ein Raus aus der Sozialhilfe, um eine Überprüfung der Einkommens- und Vermögensanrechnung, selbstverständlich auch um eine Lösung der Schnittstellenproblematik SGB VIII, SGB IX, SGB XII und SGB V.

All diese Thematiken spielen für uns eine Rolle. Ich warne dringend davor, ständig zu fordern, wir mögen mit Schnellschüssen in den Bundestag kommen. Aber unsere politische Erwartungshaltung können wir miteinander diskutieren. Das tun wir auch. Im Übrigen führen wir viele Gespräche mit den Verbänden von Menschen mit Behinderung.

Ich sage Ihnen: Die Erwartungshaltung ist immens, dass wir uns hinreichend miteinander verständigen, wie wir
eine solche Reform ausgestalten. Richtigerweise haben alle Vorschläge gemacht. Ja, das stimmt. Das sind aber
mitnichten Vorschläge, die wir alle einfach so zusammenpacken könnten, dass dann ein Exemplar herauskommt, über das Einigkeit besteht. Ich möchte nicht den einen gegen den anderen Verband ausspielen, indem wir sagen: Eure Meinung ist uns mehr wert als die Meinung eines anderen Verbandes. – Deshalb freue ich mich, dass wir einen Zeitplan vereinbart haben, der es erlaubt, in dieser Legislaturperiode ein entsprechendes Gesetz zu
erarbeiten und so rechtzeitig zu verabschieden, dass es auch noch seine Wirkung entfalten kann. Ich glaube, genau das haben wir zeitlich richtig konzipiert.

Obwohl wir bis 2016 ein Bundesteilhabegesetz vorbereiten, haben wir natürlich vor, diverse weitere Ziele vorab miteinander zu verhandeln und umzusetzen. Der Kollege Schummer hat berichtet, dass wir vorhaben, die
gesetzlichen Mitwirkungsrechte der Schwerbehindertenvertretungen noch in diesem Jahr zu überarbeiten. Wir
werden auch über die Mitwirkungsmöglichkeiten von Werkstatträten noch in diesem Jahr miteinander ins
Gespräch kommen. Wir werden den Themenbereich Budget für Arbeit und Inklusion auf dem Arbeitsmarkt
miteinander beraten und in ein Konzept gießen. Wir haben eine Menge vor; das haben wir immer wieder gesagt.

Wir haben es übrigens erstmals seit Existenz der Bundesrepublik geschafft, dass in einen Koalitionsvertrag die Herausforderungen für Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen – sei es Verkehr, Bau, Innenpolitik, Tourismus, Außenpolitik oder Menschenrechte – als Querschnittsthema aufgenommen wurden. Ich sage Ihnen: Wir sind verdammt stolz darauf. Das, was wir als Koalition an dieser Stelle vereinbart haben, ist für die Bundesregierung neu. Es ist aber richtig und wichtig, weil eine inklusive Gesellschaft mit all ihren Facetten gebraucht wird und als Querschnittsthema wichtig ist. Selbstverständlich werden wir diese Themen nicht erst 2016 behandeln, sondern wir gehen sie jetzt sukzessive an. Das ist auch richtig so.

Ich wünsche mir – wenn ich das zum Schluss noch sagen darf –, dass wir ein bisschen qualifizierter über ein
Bundesteilhabegesetz reden und uns nicht nur über die Frage des Zeitpunktes, sondern auch fachlich und inhaltlich darüber austauschen. Ich glaube, das Thema ist es allemal wert.

Herzlichen Dank.